KAPITEL 1

1. Die Abstammung von Jeschua des Maschiachs, des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams.

Das Buch der Abstammung – eine offensichtliche Anspielung auf Bereschit (1.Mose) 5,1. Um zu verstehen, warum Matthai seine Erzählung mit einer Paraphrase dieses Verses beginnt, sollten wir vielleicht einen Blick auf das rabbinische Erbe werfen. In „Midrasch Raba“ (Bereschit 24) heißt es: „Denn Ich will nicht ewiglich rechten und nicht bis zum Ende zürnen, sonst würde der Geist vor Mir verschmachten und jeder Odem, den Ich geschaffen habe“ (Jeschajah 57,16): „Denn Ich will nicht ewiglich rechten“ – mit Adam; „Ich will nicht bis ans Ende zürnen“ – über seine Nachkommen, „sonst wird der Geist (Wind) vor Mir verschmachten“. Rabbi Huna sagte: „Wenn dieser Wind weht, lenkt Gott ihn auf die Berge und die Höhen und warnt ihn: „Hüte dich, dass du Meinen Geschöpfen keinen Schaden zufügst!“ Was bedeutet es: „Mein Geist verschmachtet?“ Hier ist ein Gleichnis, eine Anspielung auf das Gebet des Jona, der sagte: „Als meine Seele in mir erschöpft war, gedachte ich an den Herrn“ (Jona 2,8). Rabbi Huna sagte: „Drei Winde wurden von Gott gesandt, die, wenn sie nicht begrenzt worden wären, die Welt zerstört hätten. Es sind die Winde zur Zeit Jonas, zur Zeit Hiobs und zur Zeit Elijahu. Der Wind zu der Zeit, als Jona auf dem Schiff war, versenkte das Schiff; der Wind zerstörte das Haus der Söhne Hiobs; aber diese sind nicht vergleichbar mit dem Wind, den der Prophet Elijahu sah. Dieser Wind zerstörte Berge und zerschmetterte Gipfel“.

Rabbi Tanchum sagte: „Der Sohn Davids wird nicht kommen, bis alle Seelen erschaffen worden sind, die Gott im Plan hatte zu erschaffen, wie es heißt: „Alles (jedes Lebewesen), das Ich geschaffen habe“, das heißt, um alles Geschaffene willen. Und das (alles Erschaffene) ‒ ist das Buch der Abstammung Adams“.

Matthai beginnt seine Erzählung mit der Genealogie Jeschuas, nicht nur um seine Abstammung von Abraham und David zu zeigen. Eigentlich ist genau diese Form den fünf Büchern Mosche vorbehalten. Es gab sogar eine Liste von zehn in der Torah erwähnten Blutlinien, die zum Auswendiglernen vorbereitet war (zum Beispiel in „Awot de Rabbi Nathan“). Laut Matthai sollte das „Buch der Abstammung“ als Ganzes ein historisches Midrasch sein, das zahlreiche Reminiszenzen mit der jüdischen Geschichte und der rabbinischen Literatur enthält.

Des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams ‒ eine Parallele zu Bereschit 25,12 und 25,16, wo Söhne AbrahamsIschmael und Jitzchak genannt werden. Matthai weist hier auf die Erfüllung der Verheißung an Abraham durch David hin. Die Erwähnung von Abraham zusammen mit David ist auch deshalb wichtig, weil Abraham, der Überlieferung nach, das Kommen des Maschiach verzögerte (Sefer Jeschuot Maschicho 1). Abraham versuchte, das Kommen des Maschiach zu verzögern und betete für eine Verschiebung, um den Völkern der Welt so viel Zeit wie möglich für die Buße zu geben; bis der Sohn Davids ihm den Tag zeigt, an dem er den Völkern verkündigt werden soll, dann wird Abraham getröstet werden. In diesem Fall wies Sohn Davids, Sohn Abrahams den Leser auf die Mitbeteiligung Davids und Abrahams an der Sendung des Messias hin.

2. Abraham zeugte Isaak; Isaak zeugte Jakob; Jakob zeugte Juda und seine Brüder.

Eigentlich bedeutet das Wort toldot, das in der Torah verwendet wird, die Geschlechter (von der Wurzel jaladgebären), daher ist es üblich, im Genre der Abstammung, die Nachkommenschaft dieser oder jener biblischen Person zu erwähnen und nicht deren Vorfahren. Wenn der Leser den Titel „Sefer toldot Jeschua“ gelesen hat, erwartete er eine Auflistung seiner Nachkommen, und nicht seiner Vorfahren. Matthai beginnt die Geschichte auf eine Weise, die den Eindruck erweckt, es handele sich um die Abstammung Abrahams und nicht um Jeschuas. Diese Abweichung vom Genre kann mehrere Gründe haben.

Zur Zeit des zweiten Tempels gab es ein von Mund zu Mund weitergegebenes und von den Schülern auswendig gelerntes „Buch der Nachfolge“ („Sefer Johassin“). Es wurde nicht an alle weitergegeben und es dauerte lange, dieses Buch zu lernen. Traktat Psachim (62b) berichtet, dass Rabbi Samlaj vergeblich versucht habe, Rabbi Jochanan dazu zu bringen, ihm dieses Buch beizubringen. Es heißt auch, dass von dem Moment an, als dieses Buch versteckt wurde, die Kraft der Weisen nachließ und das Licht ihrer Augen schwächer wurde. Eines der Ziele von Matthai ist es, dem Leser „Das Buch der Nachfolge“ von Jeschua vorzustellen, um zu zeigen, dass Jeschua im Gegensatz zu den Schriftgelehrten, Autorität und Macht hat. Ein weiteres Ziel, das sich aus dem Midrasch auf Jeschajah 57,16 weiterentwickelt, besteht darin, zu zeigen, dass Abraham, David und ihre Nachkommen, vom Standpunkt des Schöpfers ausgesehen, Nachkommen und nicht Vorfahren von Jeschua sind. Als Zeugen und Hüter der Bündnisse, die mit ihnen geschlossen wurden, hielten sie die Bündnisse um seinetwillen.

3. Juda zeugte Perez und Serah von Thamar;

Perez zeugte Hezrom. Hezrom zeugte Aram.

Juda zeugte Perez und Serah ‒ da Thamar Zwillinge geboren hat, werden sie für eine historische Verbindung angegeben.

Von Thamar ‒ Matthai (und hier ist eine weitere Abweichung vom traditionellen Genealogie-Genre) schließt Frauen in seine Genealogie ein. Über die Gründe dafür wurden zwei Hauptannahmen aufgestellt, die es wert sind, untersucht zu werden:

1. Es wurde angenommen, dass die vier Frauen, die in der Genealogie erwähnt wurden, als allgemein bekannte Sünderinnen betrachtet wurden, und ihre Aufnahme in den Stammbaum scheint Jeschuas Potenzial als Retter der Sünder zu offenbaren. Gleichzeitig wäre es schwierig, eine Quelle zu finden, die Ruth als Sünderin darstellt. Ebenso unwahrscheinlich ist es, dass Frauen in die Abstammung aufgenommen wurden im Zusammenhang mit dem Streit zwischen den Pharisäern, die auf den Maschiach aus dem Geschlecht Davids warteten, und den Sadduzäern, die auf den Maschiach, den Leviten, warteten und auf Davids „sexuell unreine“ Abstammung hinwiesen. Auch diesem Argument entspricht die Erwähnung von Ruth nicht, die weder im Tanach selbst noch in der rabbinischen Tradition sexueller Sündhaftigkeit bezichtigt wird. Es könnte auch keine Antwort auf den Vorwurf des Ehebruchs an Maria, der Mutter Jeschuas, sein, denn in diesem Fall wäre es ein Beweis für ihre Schuld gewesen.

2. Es wurde auch vermutet, dass alle vier Frauen, die Matthai in die Abstammungsliste aufgenommen hatte, Heiden waren. Und Matthai schließt sie ein, um die rettende Kraft des Maschiachs gegenüber den Heiden zu demonstrieren. Es gibt jedoch keine einzige Quelle, in der Thamar oder Bat Schewa (Bathseba) als Nichtjüdinnen dargestellt werden. Das macht eine solche Argumentation wenig stichhaltig.

Für einen jüdischen Leser, dessen Herangehensweise an den Text sich von dem modernen europäischen Leser unterschied, waren hier historische Erinnerungen wichtig. Wir haben es nicht nur mit einem Stammbaum zu tun, sondern mit einem Midrasch, der je nach Genre entwickelt wird. Daher weist die Einbeziehung von Frauen in den Stammbaum (verstanden als Midrasch), auf wundersamen, ungewöhnlichen und nicht standardmäßigen Ereignissen hin, die in den verschiedenen Phasen der Einhaltung des Bundes stattfanden, und bereitet den Leser darauf vor, die Geschichte von Jeschuas wunderbarer Geburt wahrzunehmen.

4. Aram zeugte Abinadab; Amminadab zeugte Nachschon; Nahschon zeugte Salmon;

5. Salmon zeugte Boas durch Rahab; Boas zeugte Obed von Ruth; Obed zeugte Isai;

Salmon zeugte Boas durch Rahab ‒ Es ist nicht bekannt, wer in diesem Fall mit dem Namen Rahab gemeint ist. Der Name Rahab von Jericho wird in der LXX (Septuaginta) anders wiedergegeben. Außerdem heiratet die Hure aus Jericho, laut rabbinischen Quellen, Jehoschua ben Nun.

6. Isai zeugte den König David. Der König David zeugte den Salomo mit der Frau des Uria;

7. Salomo zeugte den Rehabeam; Rehabeam zeugte den Abija; Abija zeugte den Asa;

8. Asa zeugte den Josaphat; Josaphat zeugte den Joram; Joram zeugte den Usija;

9. Usija zeugte den Jotam; Jotam zeugte den Ahas; Ahas zeugte den Hiskia;

10. Hiskia zeugte den Manasse; Manasse zeugte den Amon; Amon zeugte den Josia;

11. Josia zeugte den Jechonja und dessen Brüder zur Zeit der Wegführung nach Babylon.

12. Nach der Wegführung nach Babylon zeugte Jechonja den Schealtiel; Schealtiel zeugte den Serubbabel;

13. Serubbabel zeugte den Abihud; Abihud zeugte den Eljakim; Eljakim zeugte den Asor;

14. Asor zeugte den Zadok; Zadok zeugte den Achim; Achim zeugte den Eliud;

15. Eliud zeugte den Eleasar; Eleasar zeugte den Mattan; Mattan zeugte den Jakob;

16. Jakob zeugte den Joseph, den Mann der Maria, von welcher Jeschua geboren ist, der Maschiach genannt wird.

17. So sind es nun von Abraham bis zu David insgesamt vierzehn Generationen und von David bis zur Wegführung nach Babylon vierzehn Generationen und von der Wegführung nach Babylon bis zu Maschiach vierzehn Generationen.

Im Buch „Leket Joscher“ gibt es einen Midrasch, der besagt, dass die Gematrie des Namens David 14 entspricht, weil es von Abraham bis David 14 Generationen gibt. David selbst wird mit dem Mond verglichen, denn es heißt: „Wie der Mond wird er für immer bestehen und ein treuer Zeuge im Himmel sein. Sela!“ (Tehilim (Psalmen) 89:38). Von der Geburt des Mondes (Abraham) bis zum Vollmond (David) sind es 14 Generationen. Matthai entwickelt diesen Midrasch weiter: bis der Mond abnimmt (Übersiedlung nach Babylon) – 14 Generationen, dann bis zum neuen Vollmond (Maschiach) – 14 Generationen. Für den jüdischen Leser sind auch hier noch einige Parallelen erkennbar: Der Auszug aus Ägypten (der Prototyp der Befreiung durch Maschiach) bestand aus 42 Übergängen. Das Zentrum des Gartens Eden ist ein Baum mit 42 Ästen, an denen wie Früchte die Fürsten der Völker hängen, das heißt die himmlischen Schutzherren der Völker. Nach der galiläischen Legende, die wahrscheinlich in der Zeit, als das Matthai-Evangelium geschrieben wurde, weit verbreitet war, kommt der Ausdruck „König David“ im Tanach 42-mal vor, und genau diese Anzahl von Erwähnungen (in Wirklichkeit sind es weniger) bewegte David dazu, gegen den Todesengel zu kämpfen. Das heißt, die Zahl 42 steht für die Vollendung der Erlösung, den Abschluss des Lebenszyklus und die Bereitschaft zum Gericht. Mit dieser Symbolik verweist uns Matthai auf den Midrasch zu Jeschajah (57,16), den wir am Anfang schon erwähnt haben: Die Welt hat den Punkt erreicht, an dem der Plan in seiner ganzen Fülle verwirklicht werden kann.

18. Die Geburt von Jeschua Maschiach geschah aber so: Als Maria, seine Mutter, dem Josef vertraut war, fand es sich, ehe sie zusammenkamen, dass sie schwanger war von dem Heiligen Geist.

Als Maria, seine Mutter, dem Josef vertraut war ‒ der damaligen Tradition entsprechend fand ein Jahr vor der Hochzeit eine Verlobungszeremonie statt. In Anwesenheit von zwei Zeugen wurde dem Mädchen ein Ring überreicht und eine Widmung an ihren Mann ausgesprochen. Von dem Moment an, als der Ring angenommen wurde, wurden Mann und Frau de jure Ehemann und Ehefrau, doch die Intimität zwischen ihnen war bis zur Hochzeitszeremonie verboten. Die Eheschließung bestand wiederum aus der Unterzeichnung der ktuba (ein Dokument, in dem Zeugen aus der Gemeinde die mündliche Zusage des Ehemannes bestätigen, seine Ehefrau zu unterstützen und mit allem Nötigen zu versorgen) und einer chupa (eine symbolische Einführung der Braut in das Haus des Bräutigams). Danach zog sich das Paar zurück – der Moment, von dem an sie de facto Ehemann und Ehefrau wurden. Der Bericht von Matthai bezieht sich auf die Zeit, in der Maria mit Josef verlobt ist. Als verlobte Frau ist es ihr also verboten, sich mit einem anderen Mann zu treffen, einschließlich (vor der Heirat) mit ihrem eigenen Mann. Ihre Intimität mit einem anderen Mann würde im Haus ihres Vaters als Unzucht betrachtet und mit Steinigung bestraft werden. Matthai erzählt uns, dass Maria und Josef durch eine solche Beziehung verbunden sind.

Fand es sich, ehe sie zusammenkamen, dass sie schwanger war von dem Heiligen Geist ‒ unmittelbar vor der Hochzeit wurde, wie bereits erwähnt, ein Ehevertrag erstellt – eine ktuba. Neben der Verpflichtung des Mannes, seine Frau mit Wohnung, Kleidung und Nahrung zu versorgen, wurde in der ktuba auch der Betrag festgelegt, den die Frau im Falle einer Scheidung erhalten sollte. Bei einer Jungfrau entsprach dieser Betrag in der Regel einem ungefähren Jahresgehalt, bei einer Witwe oder einer Geschiedenen konnte er die Hälfte betragen. Eine Jungfrau hatte das Recht, eine „Jungfräulichkeitserklärung“ abzugeben, d. h. mit Worten zu bezeugen, dass sie ihren Mann nicht kannte. Es ist sehr wahrscheinlich, dass der Ausdruck: „Fand es sich, dass sie schwanger war von dem Heiligen Geist“ ‒ in diesem Fall auf die Aussage Marias selbst bei der Erstellung des Dokuments hinweist.

19. Josef aber, ihr Mann, der gerecht war und sie nicht öffentlich bloßstellen wollte, gedachte sie heimlich zu entlassen.

Auf den ersten Blick scheint es, dass Josefs Rechtschaffenheit in einem gewissen Widerspruch zum Gesetz steht. Gemäß den Anweisungen in der Torah (Dwarim 22) sollte das Mädchen gesteinigt werden:

„Wenn… die Zeichen der Jungfräulichkeit an der jungen Frau nicht gefunden worden sind, so soll man die junge Frau vor die Tür ihres väterlichen Hauses führen, und die Leute ihrer Stadt sollen sie zu Tode steinigen, weil sie eine Schandtat in Israel begangen hat, indem sie Unzucht trieb im Haus ihres Vaters. So sollst du das Böse aus deiner Mitte ausrotten. Wenn jemand ertappt wird, dass er bei einer verheirateten Frau liegt, so sollen beide zusammen sterben, der Mann, der bei der Frau gelegen hat, und die Frau. So sollst du das Böse aus Israel ausrotten“.

In der Zeit des Zweiten Tempels gab es im Judentum jedoch eine Tendenz, das Gesetz umfassender auszulegen und sich mehr auf die hohen moralischen Normen des Tanachs als auf den Buchstaben des Gesetzes zu stützen. Menschen, die dieser Auslegung des Gesetzes folgten, wurden Chassidim genannt (die moderne chassidische Bewegung hat diesen Namen übernommen), was so viel wie die Frommen bedeutet. Wenn ein Konflikt zwischen Menschen auftrat, gab es drei mögliche Verhaltensweisen:

1. Die strikte Einhaltung des Buchstabens des Gesetzes (lefi dingemäß dem Gesetz);

2. Die Ablehnung der Verteidigung durch Gegenargumente, d.h. freiwillige Annahme der Auslegung des Gesetzes durch die andere Partei (lifnej meschurat adinvor dem Buchstaben des Gesetzes);

3. Nach dem Maß der Gnade (midat-hassidut).

Im Talmud (Traktat Bawa Mezia 87) findet sich ein Beispiel, in dem diese Auslegung des Gesetzes deutlicher demonstriert wird:

„Rawa bar Khana (anscheinend ein wohlhabender Mann) hat Arbeiter angestellt, um die ihm gehörenden Weinfässer zu tragen. Die Arbeiter zerschlugen aus Unachtsamkeit (und nicht absichtlich) seine Fässer und fügten ihm Schaden zu. Um Schadenersatz gerichtlich geltend zu machen, behielt Rawa ihre teuren Kleider ein, die er als Pfand hatte. Die Arbeiter wandten sich an Rabbiner, der entschied, dass Rawa bar Khana ihnen ihre Kleider zurückgeben sollte, denn es steht geschrieben (Mischlej 2,20): „Geh auf dem Weg der Guten“. Aber damit war die Sache noch nicht vorbei. Am Ende des Tages kamen die Arbeiter zu bar Khana und verlangten einen Tageslohn, denn der Arbeitstag neigte sich dem Ende zu und sie waren hungrig. Und wieder ordnete der Rabbiner an, dass sie bezahlt werden sollten, denn an gleicher Stelle geschrieben steht: „Halte dich auf den Pfaden der Gerechten“.

Es ist klar, dass nach dem Buchstaben der Torah die Arbeiter für ihre Arbeit keinen Lohn erhalten sollten, sie hatten auch keine rechtlichen Argumente, die akzeptiert werden könnten. Deshalb geht Rabbiner in seiner Entscheidung nicht von einer Analyse der Situation aus, sondern von den ethischen Forderungen, die an den Menschen gestellt werden, und das nennt man Maß der Gnade. Wenn Matthai uns sagt, dass Josef ein rechtschaffener Mann war, meint er höchstwahrscheinlich, dass Josef nach chassidischen Kriterien lebte, ein Chassid war und seine Handlungen entsprechend plante.

Josef hätte Maria einen Scheidungsbrief ausstellen können, ohne die Gründe für die Scheidung zu nennen, und wodurch er die Weihegebühr verloren hätte. Das war wohl genau das, was er tun wollte.

20. Während er dies aber überlegte, siehe, da erschien ihm ein Engel des Herrn im Traum und sprach: Josef, Sohn Davids, fürchte dich nicht, Maria, deine Frau, zu dir zu nehmen! Denn das in ihr Gezeugte ist von dem Heiligen Geist.

Hier zeigt Matthai dem Leser eine weitere wichtige Parallele: die Parallele zwischen Jeschua und Mosche. Nach der mündlichen Überlieferung, zog sich Amram, der Vater von Mosche, von seiner Frau zurück, nachdem der Pharao befohlen hatte, jedes geborene jüdische Kind in den Fluss zu werfen. Es gibt Midraschim, die erzählen, dass ein Engel des Herrn ihm in einem Traum erschien und ihn aufforderte, zu seiner Frau zurückzukehren, indem er eine Prophezeiung über die Geburt von Mosche gab, der die Hebräer aus der ägyptischen Gefangenschaft retten sollte.

Fürchte dich nicht, Maria, deine Frau, zu dir zu nehmen! Denn das in ihr Gezeugte ist von dem Heiligen Geist. ‒ Es wäre richtig zu übersetzen: „Fürchte dich nicht, Maria zur Frau zu nehmen.“

21. Und sie wird einen Sohn gebären, und du sollst seinen Namen Jeschua nennen, denn er wird sein Volk retten von seinen Sünden.

Denn er wird sein Volk retten von seinen Sünden ‒ hier sehen wir ein Beispiel für gemischte Zitate, die in rabbinischen Quellen sehr häufig vorkommen. Hier wurden Zitate aus Jeschajah 7,14 und Tehilim 130,8 vermischt.

22. Dies alles geschah aber, damit erfüllt wurde, was von dem Herrn geredet ist durch den Propheten, der spricht:

23. »Siehe, die Jungfrau wird schwanger sein und einen Sohn gebären, und sie werden seinen Namen Emmanuel nennen«, was übersetzt ist: Gott mit uns.

Hier handelt es sich nicht um einen Hinweis auf die Erfüllung der Prophezeiung, d.h. nicht um eine Interpretation der einfachen, wörtlichen Bedeutung der Prophezeiung, sondern um die Schaffung eines prophetischen Kontextes für ein historisches Ereignis, mit anderen Worten, um eine Extrapolation der Prophezeiung auf einen neuen historischen Kontext. Die Einfügung solcher prophetischen Parallelen in eine historische Erzählung ist eine ziemlich verbreitete literarische Methode. Ein Beispiel dafür ist eine Passage aus dem Midrasch Chanukka, wo es sowohl für den Leser als auch für den Autor offensichtlich ist, dass die Parallelen zu den zitierten Propheten absolut nicht dazu gedacht sind, die einfache Bedeutung der Prophezeiung zu enthüllen:

„So vergingen drei Jahre. Die Griechen sahen, dass dieses Gesetz nutzlos war, weil keiner von den Israeliten gefallen oder zerbrochen war. Da erdachten sie ein anderes Verbot. Sie sandten Boten aus, um zu verkünden: Jeder Mann in Israel, der einen Ochsen oder einen Widder hat, soll auf seine Hörner ritzen, dass er kein Teil an dem Gott Israels hat. Das alles, damit die Juden kein Fleisch, keine Milch und keinen Quark mehr haben und das Land nicht mehr bebauen können. Die Griechen glaubten, dass die Juden dieses Gesetz nicht ertragen würden. Als die Juden von dem neuen Gesetz hörten, wurden sie sehr betrübt. Sie beschlossen also: Wir wollen, Gott bewahre, unsern Heiligen Gott nicht verleugnen. Sie verkauften alles Vieh, reines und unreines, und seitdem waren sie zu Fuß unterwegs. Da erfüllte sich an ihnen, was gesagt ist: „Ich habe Sklaven auf Pferden gesehen und Oberste, die wie Sklaven zu Fuß gingen“ (Kohelet 10,7). Und Gott sprach zu ihnen: „Das ist die Strafe dafür, dass ihr das Gebot der Regalim (Wallfahrtfeste) vernachlässigt habt und nicht dreimal im Jahr nach Jerusalem hinaufgegangen seid, um Schlachtopfer darzubringen. Deshalb hat sich an euch erfüllt: „Dein Stier wird vor deinen Augen geschlachtet werden“ (Dwarim 28,31). Aber auch in dieser Situation gab es Trost, denn Damhirsche und Hirsche und alle reinen Vögel kamen in die Vorhöfe der Israeliten, denn sie hatten weder Türen noch Tore. Die Israeliten fingen sie und schlachteten, sie aßen das Fleisch und priesen den Allerhöchsten und sagten: „Gesegnet sei der, der den Plan des Feindes in etwas Gutes verwandelt hat!“ Und Gott sprach zu ihnen: „Weil ihr Mir treu seid und Mich nicht verleugnet habt, darum gebe Ich diesen Fang in eure Hände“.

Als die Griechen sahen, dass auch dieses Verbot die Israeliten nicht brechen konnte, erdachten sie eine neue Verordnung: „Jeder, dessen Frau hingeht, um Tauchbad (mikwe) zu nehmen, wird mit dem Schwert getötet werden. Und jeder, der sie sieht, kann sie zur Frau nehmen, und ihre Kinder sollen seine Sklaven sein“. Und als die Israeliten von diesem Verbot erfuhren, enthielten sie sich und gingen nicht zu ihren Frauen hinein. Die Griechen freuten sich und sagten: „Weil die Israeliten nicht zu ihren Frauen gehen, wollen wir zu ihnen gehen“. Und die Israeliten wurden gezwungen, zu ihren Frauen zu gehen, ohne ritueller Waschung. Und sie beteten und sprachen: „Herr der Welt, das tun wir aus Zwang und Unwillen; denn es ist nicht gut für eine verheiratete Frau, ohne Befriedigung zu sein“. Der Allerhöchste antwortete: „Da ihr es ungewollt getan habt, werde Ich euch reinigen“. Und es öffnete sich in jedem Haus eine Quelle, so dass sich alle Töchter Israels waschen konnten. Und damit erfüllte sich, was gesagt wurde: „Und ihr werdet mit Freuden Wasser schöpfen aus den Quellen des Heils“ (Jeschajah 12,3) und: „Der Herr wird die Verunreinigung von den Töchtern Zions abwaschen“ (Jeschajah 4,4).

Siehe, die Jungfrau wird schwanger sein – die Frage der Auslegung des hebräischen Wortes alma sowie des griechischen Wortes parthenos löste viele Streitigkeiten zwischen Juden und Christen über die wahre Bedeutung dieses Wortes aus. Eigentlich kann dieser Streit nicht fruchtbar sein. Erstens, weil sowohl das Wort alma als auch das Wort parthenos in biblischen Texten in Bezug auf eine Jungfrau und eine junge Frau, die einen Mann gekannt hat, verwendet werden. Zweitens, weil die patriarchalische Gesellschaft zur Zeit der Propheten an sich kein besonderes Wort für eine junge Frau brauchte, die ihre Jungfräulichkeit nicht bewahrt hatte.

Matthais Auslegung der Jeschajah-Passage sollte wahrscheinlich in dem Kontext verstanden werden, in dem Matthai sie selbst wiedergibt. Diese Auslegung erscheint im Text des Evangeliums nach der Offenbarung, die Josef im Traum von einem Engel erhält. In der Zeit, von der wir sprechen, entwickelte sich unter den Juden, in Erwartung des verheißenen Maschiach die apokalyptische Literatur (oder die Literatur der Bündnisse). Diese Bücher waren nicht für das ganze Volk bestimmt, sondern für einen kleinen Kreis von Auserwählten, sei es von priesterlicher Herkunft oder von einem besonderen geistigen Niveau. Die Bücher enthielten oft geheime Auslegungen biblischer Texte, die von Patriarchen oder Engeln übermittelt wurden. In diesem Fall wird ein neues Verständnis der Prophezeiung von Jeschajah als eine Erweiterung der Engelsoffenbarung gegeben, im Kontext der Ansprache des Engels an Josef in einem Traum. Matthai als Evangelist erreicht mit dieser Konstruktion der Geschichte gleich drei Ziele:

1) Er bereitet den Leser darauf vor, dass der Inhalt des Buches einen eschatologischen Charakter haben wird;

2) Enthüllt das Geheimnis der jungfräulichen Empfängnis Jeschuas

3) Zeigt einen Hinweis auf dieses Ereignis im biblischen Text.

Der jüdische Leser (der Zeitgenosse des Evangelisten) und auch der moderne Leser, der in den Zelten des Studiums der Torah lebt, würde in diesem Text einen gewöhnlichen Midrasch sehen, der als lexikographisch bezeichnet wird. Die Frage, ob das Wort alma ursprünglich ausschließlich Jungfrau bedeutet, kam ihm nicht auf.

Eine Antwort

  1. Carola sagt:

    Shalom
    Und vielen, vielen Dank für das Teilen dieses Wissens.
    Dieses historische Wissen ist so hoch, dass ich dieses Kapitel mehrmals lesen, lernen, studieren empfehle und gehört wirklich nicht in die säkulare Welt, bevor kein wirkliches Interesse an der Tora erwacht ist.

    Der Allmächtige möge alle segnen, die daran gearbeitet haben, und an weiteren Kapiteln arbeiten in Yeshua’s Namen Amen.
    Shalom.

    PS. Viele Sätze begreife / durchschaue ich noch nicht. C.

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